Was hat es auf sich mit dem Pflanzenleid?

Was hat es auf sich mit dem Pflanzenleid?

20.03.2014

Auf welche Weise wir auch immer die Frage zu entscheiden versuchen, ob Pflanzen leiden können, wir finden dieselbe Antwort: offensichtlich nicht. Aber ob Pflanzen leiden können oder nicht ist auch überhaupt keine Frage, die normalerweise im täglichen Leben in der Gesellschaft auftaucht. Die Leute leben so, als ob Pflanzen nicht leiden können, und finden das im Allgemeinen nicht hinterfragenswert. Doch plötzlich, unter sehr spezifischen Bedingungen, bestehen meistens genau diejenigen Leute auf die Existenz von Pflanzenleid, die sich nicht nur im täglichen Leben darum nicht kümmern, sondern oft im normalen Leben überhaupt keine besonderen moralischen Ansprüche an sich selber stellen. Das Pflanzenleid wird dann und nur dann von diesen Leuten als relevant empfunden, wenn es um die moralische Berechtigung des Fleischessens geht. In allen anderen Belangen ist das Pflanzenleid sowieso kein Thema. Wenn wir uns dieses Umstandes bewusst werden, dann können wir den Einwurf aber Pflanzen leiden doch auch! Zum moralischen Argument gegen das Fleischessen als das entlarven, was er ist: eine sehr schwache Ausrede ohne jegliche Substanz.

In Diskussionen mit Fleischesser_innen trifft man immer wieder auf den Einwurf, dass Pflanzen ja auch leiden, und daher Fleisch zu essen und Pflanzen zu essen moralisch nicht verschieden zu bewerten sei. Implizit wird dabei aber oft ein sehr verquerer Begriff der Leidensfähigkeit verwendet, nennen wir ihn leiden (unter Anführungszeichen). Tiere leiden nach der Ansicht dieser Leute nicht wie Menschen, sondern sie leiden wie Pflanzen, weil sie kein (Ich-)Bewusstsein hätten.

Speziell bei einer Podiumsdiskussion des Liberalen Forums über Vegetarismus Anfang Februar 1999 in Wien fiel auf, dass die Leute sehr leichtfertig das Wort leiden verwenden. Viele der Diskutant_innen hielten nicht-menschliche Tiere einfach für Automaten: Sie hätten im Gegensatz zu Menschen keine Seele, kein Selbstbewusstsein, keinen freien Willen; sie wären einfach Instinktmaschinen. Aber trotzdem haben diese Menschen gemeint, nicht-menschliche Tiere könnten leiden, was auch immer das dann heißen soll. Aber sie waren auch der Meinung, dass Pflanzen ebenso leiden könnten. Genauso wie diese Tiere, die willenlosen, biologischen Automaten, auschließlich von Umweltreizen und ihrem Gencode diktiert, leiden sie so dahin, was sich unter anderem in Reizreaktionen oder Reflexen wie Harzausfluss und Schreien äußert.

Ganz anders dagegen die Menschen: Sie hätten einen freien Willen, eine Seele, ein Selbstbewusstsein (und damit erst ein eigentliches Bewusstsein). Menschen seien keine Maschinen, sondern, wenn man es genau nimmt, eigentlich die einzigen so richtig im wahrsten Sinn des Wortes fühlenden Lebewesen. Für Menschen ist Leiden (ohne Anführungszeichen) eben auch mit Gefühlen verbunden.

Das Weltbild ist also: hier Menschen, die einzig eigentlichen Lebewesen im Sinne eines freien Willens, einer autonomen Entscheidungsfähigkeit, die eigentlichen Bewohner_innen der Erde – dort Pflanzen und Tiere, die Natur auf der Erde, die Austattung der menschlichen Behausung.

Der Mensch agiert, ist durch seinen freien Willen und seine Seele individuell unendlich wertvoll, hat daher Rechte, die nicht verletzbar sind.

Die Natur (Pflanzen und Tiere) reagiert, hat keinen freien Willen und keine Seele, ihr Lebenszweck beschränkt sich auf die Lebenserhaltung und Fortpflanzung, es gibt daher nur die moralische Verpflichtung diese Natur in ihrer Vielfalt zu erhalten, aber keine individuellen Rechte, die verletzt werden könnten.

Nicht-menschliche Tiere leiden unter der Massentierhaltung, wie die Natur unter der Dürre, die Häuser unter einem Erdbeben und wie die Erde unter einem Kometenbombardement leidet.

Das wissenschaftliche Argument zu pflanzlichem und tierlichem Bewusstsein

Soweit die Pseudo-Philosophie der Fleischesser_innen. Schön und gut, sie hat allerdings nur einen Fehler: Die anderen Tiere haben genauso wie die Menschen eine Seele (= ein Bewusstsein), einen freien Willen, ein Selbstbewusstsein, und daher auch die Eigenschaft, dass ihr Leiden von einem Gefühl begleitet wird, im Gegensatz zum Leiden der reinen Reaktion, des Reflexes, ohne Gefühl. Der Unterschied zwischen Pflanzenleid und Tierleid ist also der Kern der Tierrechtsphilosophie.

Das gefühlsverbundene Leiden, das eigentliche Leiden (ohne Anführungszeichen), setzt ein Bewusstsein voraus. Das ist leicht einzusehen, denn wenn ich bewusstlos bin, kann ich nicht mehr leiden, aber immer noch leiden, d.h. meine Haut zeigt Verbrennungen und ähnliche Reaktionen und Refelxe ohne Bewusstsein. Voraussetzung für ein Bewusstsein ist ein Hirn, oder zumindest Neuronen, oder vielleicht nur die Substrukturen von Neuronen, die T-Struktur im Zytoskeleton der Neuronenzellen (Penrose 1994, Shadows of the mind, Oxford Univ. Press). Weiters braucht man ein zentral koordiniertes Nervensystem für bewusste Empfindungen. Zerstöre ich das Hirn, oder betäube ich die einzelnen Nerven, oder zerschneide ich den zentralen Nervenstrang in der Wirbelsäule, dann fühle ich nichts mehr, oder habe kein Bewusstsein bzw. kein Bewusstsein in den Körperteilen mehr, in denen die Nerven gezogen oder betäubt wurden.

Bewusstsein erkenne ich also biologisch an T-Strukturen im Zytoskeleton der Zellen und einem zentralen Nervensystem. Aber ein Bewusstsein erkenne ich auch am Verhalten, an Lernfähigkeit, und generell einem komplexen Verhalten, an Problemlösungsfähigkeiten des Individuums, speziell bei für das Individuum neuen Situationen.

Das Bewusstsein muss sich ja auch evolutionär entwickelt haben. Also muss es Vorteile beim Überleben unter gewissen Bedingungen gebracht haben. Also hat es tatsächliche Auswirkungen auf das Verhalten, und ist somit erfahrbar. Wann bietet es Vorteile? Speziell bei komplexen, unvorhersehbaren Problemen. Voraussetzung für das Bewusstsein ist daher auch die Fähigkeit zur Reaktion, also eine gewisse physische Beweglichkeit.

Fakten aus der Biologie:

FähigkeitenTierePflanzen
Reaktionsfähigkeitgroßklein
Beweglichkeitgroßklein
Verhaltenskomplexitätgroßklein
Lernfähigkeitjanein
Zentrales Nervensystemjanein
T-Strukturenjanein

Wissenschaftlich gesehen haben Pflanzen nach bestem Wissen also kein Bewusstsein und damit keine Gefühle. Die physiologischen Reaktionen von Pflanzen auf Reize sind kein Hinweis auf ein Bewusstsein, weil es Reizreaktionen auch ohne Bewusstsein gibt. Für Reizreaktionen genügt es ein Lebewesen zu sein, man muss aber kein Bewusstsein haben. Ich war schon im Spital unter Anästhesie bewusstlos und weiß daher aus eigener Erfahrung, wie sich ein Lebewesen ohne Bewusstsein fühlt: Es fühlt nichts, hat keine Wünsche, keine Empfindungen, keine Bedürfnisse, keine Interessen. Ich war trotzdem am Leben und habe Reizreaktionen gezeigt, z.B. den Pupillenreflex. Das ist ein Beweis dafür, dass es Leben ohne Bewusstsein gibt, das trotzdem Reizreaktionen zeigt. Zusätzlich ist der Umstand, dass Tiere anästhesierbar sind wie ich, und Pflanzen nicht, ein Argument für die These, dass Tiere ein Bewustsein haben und Pflanzen nicht. Es ist hier wichtig zwischen bewusstlos und unbewusst (wie im Schlaf) zu unterscheiden. Unbewusst können nur Lebewesen mit Bewusstsein sein. Bewusstlos heißt dagegen völlig ohne Bewusstsein, und das ist ganz etwas anderes.

Das emotionale Argument zu pflanzlichem und tierlichem Bewusstsein

Für manche ist vielleicht die Wissenschaft kein gutes Argument. Was kann man schon wissenschaftlich über Bewusstsein und Leben aussagen! Diesen Leuten möchte ich vorschlagen, sich selbst beim folgenden Gedankenexperiment zu beobachten, und dabei so einfühlsam und ehrlich wie möglich zu sein:

Du nimmst ein Messer und rennst einer Henne hinterher. Fang sie, um sie zu töten! Sie schreit um Hilfe, wehrt sich verzweifelt, die entsetzten Augen stehen offen. Du erwischst sie, sie kratzt dich, peckt dich mit letzter Kraft in Todesangst. Du schneidest ihr in den Hals. Sie schreit, gurgelt, das Blut spritzt, die Flügel schlagen. Du hältst sie fest, spürst das warme Blut herausquellen, spürst das Herz schlagen. Das Blut spritzt überall hin. Das letzte Zucken, dann herrscht Ruhe. Du lässt den Leichnam los, die toten Augen starren Dich an. Du schneidest in den schlaffen Körper hinein, holst die Gedärme raus. Da ist das Herz, die Lunge, die Niere, die Milz! Der Darm reißt auf, du siehst, was sie als letztes gegessen hat, halb verdaut. Du reißt Ihr die Federn aus, schneidest den Kopf ab. Ihre Haut fühlt sich jetzt kühl an, fast wie deine.

Ehrlich gesagt meine ich, wer das zu tun imstande ist, ist ein ziemliches Monster, vor dem ich mich fürchte.

Und jetzt gehen wir in den Garten und holen eine Karotte. Da ist sie, noch in der Erde, mit den grünen Blättern, die aus der Erde ragen. Du nimmst die Blätter in die Hand und ziehst an. Zack, jetzt hast du die erdige Karotte in der Hand. Du wäschst sie ein bisserl. Dann nimmst du dein Messer, schneidest die Blätter ab und - zack, zack, zack - schneidest die Karotte in handliche Teile. Und schwupp, in den Mund damit.

Jetzt frage ich ganz ehrlich: Ist das letztere auch nur in irgendeiner Form vergleichbar erschreckend wie das erstere? Wer letzteres tun kann, würde man ihn_sie als ein Monster bezeichnen, vor dem man sich in acht nehmen muss?

Sollte dieser Unterschied, den wir da in den beiden Fällen empfunden haben, bei ehrlichem, vorurteilslosem Hineinversetzen in die Situation, sollte der auf Tradition und Gewohnheit basieren, oder hat der Unterschied nicht vielleicht doch etwas mit der Wirklichkeit zu tun? Es gibt sicher viele Leute, die haben weder jemals selber Karotten aus dem Boden gerupft und Hennen geschlachtet noch dabei zugesehen und empfinden trotzdem ganz anders bzgl. der beiden Dinge. Oder Kinder. Zeig einem Kind beliebigen Alters zuerst das Karottenrupfen und dann das Hennenschlachten. Um Objektivität zu schaffen, sollte man vielleicht dem Kind zuerst die Henne als lebendes Tier und die Karotte als lebende Pflanze näherbringen. Zeigen wir dem Kind, wie sie geboren/gepflanzt werden, wie sie aufwachsen. Wie man mit ihnen kommunizieren kann. Und dann zeigen wir das Rupfen und die Schlachtung. Offensichtlich würden die Kinder bzgl. der Karotte und der Henne ganz anders reagieren! Sollte das nicht einen guten Grund haben?

Ich vermute, dass das Bewusstsein im Rahmen der Evolution auf der Erde ziemlich gleich entsteht bzw. entstanden ist und daher alle Erdenlebewesen diesbzgl. so ähnlich sind, dass sie verschiedenen Bewusstseins miteinander kommunizieren können. Mit Lebewesen anderer Planeten kann das durchaus ganz anders sein. Aber auf der Erde würde ich erwarten, dass ein Bewusstsein in der Lage ist, die Existenz eines anderen Bewusstseins zu erkennen. So würde ich erklären, warum wir so unglaublich verschieden auf die beiden Szenarien reagieren.

Es gibt noch viele andere Unterschiede zwischen Pflanzen und Tieren bzgl. ihren grundlegenden Eigenschaften. Wenn man z.B. eine Erdäpfelpflanze nimmt und ihre Knollen an verschiedenen Stellen erneut in den Boden einsetzt, dann wurden plötzlich aus einer Pflanze viele Pflanzen. Sind das die gleichen Pflanzen oder eine Pflanze in mehreren Teilen? Woran erkenne ich den Unterschied? Wo beginnt eine Pflanze und wo hört sie auf? Bei Lebewesen mit Bewusstsein ist das eindeutig. Dort, wo das Bewusstsein ist, da ist das Lebewesen, die Individualität – z.B. verwachsene Zwillinge. Ist es ein Kopf mit einem Körper mit vier Beinen, so ist es ein Bewusstsein, ein Lebewesen. Ist es aber ein Körper mit zwei Köpfen und zwei Bewusstseins, so sind es zwei Lebewesen, nach herkömmlicher Meinung. Ein Zwuzel bei der Pflanze, eine Verwachsung in zwei Teile, ist immer eine Pflanze. Bei der Pflanze gibt es eben kein Zentrum, kein Bewusstsein, keinen materiellen Sitz des Bewusstseins, um da zu unterscheiden.

Individualrechte für Tiere und Utilitarismus für Pflanzen

In der Tierrechtsphilosophie ist das Bewusstsein, das leiden kann und das Interessen hat, die Basis für Rechte. Und die Rechte beziehen sich immer nur auf die Bedürfnisse und Interessen des Bewusstseins. Ohne Bewusstsein kann ich nicht sagen, dass das Lebewesen selbst ein Interesse hätte. Das Interesse ist immer Selbstzweck des Individuums. Einen Zweck der Pflanze kann ich, höchstens, im Weiterexistieren der Pflanze erkennen, sonst scheint sie keine Funktion zu haben. Wenn das Lebewesen ohne Bewusstsein nichts fühlen kann, dann scheint es mir für nichts anderes zu leben als weiter zu existieren, sich weiter zu entwickeln. So wie eine ganze Tierart. Die hat auch selbst kein Interesse, weil sie kein Bewusstsein hat, aber sie hat die Funktion weiter zu existieren, als Teil eines Ökosystems zu funktionieren.

Einzelne Lebewesen mit Bewusstsein haben Interessen, und darauf fußend Rechte. Bei Tierarten, also im Umweltschutz, proklamieren wir keine Rechte, sondern handeln utilitaritisch. Eine Tierart, die am Aussterben ist, geht vor im Vergleich zu einer, die das nicht ist. Einzelschicksale zählen nur in ihrer Auswirkung auf das Ganze, das Ökosystem, und das Für und Wider wird nach seiner Funktion für das Ganze abgewogen und danach entschieden. Gefühle, Leiden und Freuden verschiedener Individuen kann man nicht gegeneinander abwägen, sie addieren sich nicht und heben sich auch nicht gegenseitig auf. Ein Tier einer Tierart, die selten ist, ist nicht wichtiger als ein Tier einer Tierart, die häufig ist, weil beide individuellen Tiere gleichwertige Interessen haben und daher nach dem Prinzip der Gerechtigkeit auch gleichwertige Rechte auf Respekt und Berücksichtigung.

Deshalb haben Tiere (bzw. eigentlich Lebewesen mit Bewusstsein; welche Tiere da hineinfallen, ist eine wissenschaftliche Frage) Rechte, während Pflanzen utilitaristisch berücksichtigt werden. Einem Tier darf ich nicht das Leben nehmen, Punkt, auch wenn andere Tiere dadurch Vorteile haben. Einer Pflanze schon, wenn ich sicherstelle, dass das Ökosystem intakt bleibt. Ihrer Funktion ist damit genüge getan.

Oft wird argumentiert, dass wir im Prinzip nie wissen können, ob Pflanzen leiden. Im Zweifelsfall sollten wir daher annehmen, dass sie es tun, und uns entsprechend verhalten. Wir wissen nämlich gar nichts zu 100%. Wir sperren allerdings Leute ins Gefängnis, obwohl wir nie zu 100% wissen können, ob sie schuldig waren, selbst wenn sie gestehen, der DNS-Vergleich das ergibt, 200 Zeug_innen es sahen, ein Video von der Tat existiert, etc. Immer noch könnte es einen Irrtum geben. 100% ist nichts. Vielleicht haben Steine Bewusstsein, vielleicht leidet die Tastatur vor mir Höllenqualen, wenn ich auf ihr tippe, vielleicht geht die Welt unter, wenn ich die Augen schließe? Nichts wissen wir zu 100%. Und trotzdem muss ich schon geisteskrank sein, um meine Augen offenzuhalten, in der Angst, die Welt geht unter, wenn ich sie schließe.

Und warum? Weil aller vernünftigen Wahrscheinlichkeit nach das nicht so ist. Die Welt geht nicht unter, die Tastatur fühlt nichts und Steine leben nicht und haben kein Bewusstsein – nach bestem Wissen und Gewissen.

Naja, und die Pflanzen? Dafür habe ich mein Beispiel gebracht, den Vergleich zwischen Henne-Schlachten und Karotten-Rupfen. Im ersteren Fall ist die Reaktion so, wie ich mir das mit größter Wahrscheinlichkeit von einem Bewusstsein erwarte, im zweiten so, wie ich erwarte, dass ohne Bewusstsein reagiert wird. Zumindest besteht da ein himmelhoher Unterschied, der sich sowohl in meinem Verhalten als auch in meiner Ethik niederschlagen muss!

Manchmal wird, ohne viel nachzudenken, als moralischer Grundsatz gefordert, dass alles, was lebt, ein Recht zu leben haben soll. Das entspricht allerdings formal der Forderung, dass alles, was liegt, ein Recht zu liegen haben soll. Also auch Steine, die liegen.

Das ist nicht sinnvoll, denn wenn alles, das irgendwie ist, ein Recht hat, so zu sein, dann kann ich mich nicht bewegen, also Dinge verändern, ohne solche Rechte zu brechen. Dazu sind viele Dinge nicht individuell, d.h. kein eindeutiges Individuum identifizierbar, und daher wären Individualrechte nicht interpretierbar. Wenn der Stein zerteilt wird, oder mit anderen Dingen vermengt oder verschmolzen, welcher hatte das dem ursprünglichen Stein zugedachte Recht?

Wenn alles das Recht hat, so zu sein, wie es ist, übersehe ich auch, dass manches vielleicht das Interesse und den Wunsch hat, nicht so sein zu müssen: Ein verhungernder Mensch, würde man sagen, hat das Recht zu essen zu bekommen und nicht weiter zu verhungern.

Ich schließe also, dass der Umstand, dass etwas irgendwie ist, nicht ausreicht dafür, dem gleich Rechtsstatus zu geben. Für individuelle Rechte brauche ich auch individuelle Rechtsträger_innen, und die sind erst durch die Singularität des Bewusstseins gegeben. Und um etwas ein Recht zu geben, muss es Interessen und Wünsche haben, weil erst Interessen und Wünsche diesem etwas Umstände als schlecht oder gut, als wünschens- oder vermeidenswert, erscheinen lassen. Ansonsten ist gar nicht zu entscheiden, worauf dieses Recht abzielen soll.

Aus dem Umstand, dass erst Bewusstsein zu singulärer Individualität führt, und dass Bewusstsein erst Interessen und Wünsche ermöglicht, schließe ich, dass erst Bewusstsein individuelle Rechte zur Folge haben kann.

Da die Gesellschaft immerhin Leute lebenslang einsperrt, die das Lebensrecht von Menschen brechen, muss schon ein sehr gutes Argument für das Lebensrecht angegeben werden können. Wenn dieses Lebensrecht von Menschen aber nicht besser begründet wäre, als das Liegerecht von Steinen, dann wäre eine drastische Maßnahme wie lebenslange Gefängnisstrafe bei der entsprechenden Rechtsübertretung mehr als sehr fragwürdig.

Auffällig ist jedenfalls, dass das Konzept Pflanzenleid nur im Zusammenhang mit der Frage nach der Moralität des Fleischessens auftaucht. Bei der Forderung nach dem Ersetzen von Tierversuchen durch Versuche an Zellkulturen oder Pflanzen redet niemand vom Pflanzenleid. In der Frage der Tiertransporte erwähnt niemand das Leiden bei Zuckerrübentransporten. Betäubungsloses Schlachten wird abgelehnt und verboten, selbst die EU fordert die Betäubung der Tiere vor dem Töten, aber niemand fordert das Betäuben von Pflanzen vor dem Pflücken oder Aufschneiden. Pflanzen werden lebend gegessen; nicht-menschliche Tiere lebend zu essen wäre in den Augen der Gesellschaft der ärgste Moralverstoß. Der §222 StGB fordert bis zu 6 Monate Haft für diejenigen, die vorsetzlich nicht-menschliche Tiere schwer misshandeln, also ihnen z.B. bei vollem Bewusstsein die Extremitäten ausreißen; niemand fordert einen §222a StGB um das vorsetzliche Pflücken von Blumen oder Abreißen von Grashalmen zu verbieten. Massentierhaltung wird auch von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt, aber niemand kritisiert Rübenfelder, weil es den Pflanzen Leiden bringen soll. Genauso gibt es Tierspitäler, Tierrettungen und Gnadenhöfe, und alle finden das zumindest okay, aber niemand fordert ein Pflanzenspital, eine Pflanzenrettung oder einen Pflanzengnadenhof. Schmerzforschung und Tests neu entwickelter Schmerzmittel werden komischerweise auch nur an Tieren durchgeführt, usw. Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Offensichtlich lebt unsere Gesellschaft so, als ob es Pflanzenleid nicht gäbe.

Die Diskussion um das Pflanzenleid kommt also nur dann auf, wenn das Fleischessen kritisiert wird, aber bei keinem anderen tierrechtsrelevanten Sachverhalt! Offenbar gibt es den Konsens in der Gesellschaft, dass Pflanzen nicht leiden können. Das Pflanzenleid wird nur als Ausrede jener Fleischesser_innen benutzt, die merken, dass sie keinen rationalen Grund für ihr Verhalten angeben können.