Die Geschichte der Wiener Vegetarier:innen-Bewegung

Die Geschichte der Wiener Vegetarier:innen-Bewegung

17.01.2018

Auf ein vegetarisches Wiener Schnitzel ins Reform-Restaurant Thalysia hinterm Burgtheater oder doch lieber in Ramharters vegetarisches Speiselokal ums Eck vom Kohlmarkt, wo man nach dem Essen in den aufliegenden Vegetarismus-Zeitschriften schmökern konnte? Packte Vegetarier:innen in Wien um 1900 der Hunger, konnten sie zwischen mehreren Restaurants mit fleischfreier Speisekarte wählen. Wer lieber selber kochte, deckte sich im Reformhaus Schmall im 8. Bezirk mit Vorräten ein. Auch für vegetarische Gehirnnahrung war gesorgt: Der 1881 gegründete Wiener Vegetarierverein veranstaltete regelmäßig Vorträge, bei denen Argumente für eine fleischlose Ernährung debattiert wurden. Damit hatte sich in Wien um die Jahrhundertwende eine vegetarische Szene etabliert, die in den 1920er Jahren Anknüpfungspunkte an allgemeine Ernährungsdiskurse herstellen konnte. Die NS-Diktatur und der Zweite Weltkrieg beendeten diese „erste“ vegetarische Bewegung und es dauerte mehrere Jahrzehnte, bis Wien wieder ein Veggie-Hotspot wurde.

Zeichnung aus: Naturheilzeitung, 1932

Fleischverzicht als Teil einer „naturgemäßen Lebensführung“ in den 1870er Jahren

In Österreich bestand die erste Generation von Vegetarier:innen aus Menschen, die über eine Krankheit zur fleischlosen Ernährung gekommen waren. In Naturheilanstalten und über Zeitschriften tauschten sie Erfahrungen mit der „reizarmen“ Diät aus. Neben Fleisch mieden viele Vegetarier:innen auch Weißbrot, Gewürze, Alkohol und Tabak. Der Konsum von Milch und Eiern wurde kontrovers diskutiert und von einer Minderheit unter den Vegetarier:innen abgelehnt. In Wien waren die „Vegetarianer strengster Observanz“ (so der damalige Begriff für Veganer:innen) deutlich unterrepräsentiert. Die Mehlspeisküche auf der Basis von Eiern, Milch und Topfen war auch in vegetarischen Kochbüchern omnipräsent. Bei der naturgemäßen Ernährung verbanden sich gesundheitliche Überlegungen mit dem sozialen Anliegen eines „sittlichen“, nämlich maßvollen, rationalen und disziplinierten Lebensstils. Die Bewegung für eine naturgemäße Lebensweise war zudem eng mit den Hygiene-Diskursen der Zeit verbunden: Viele Bürger:innen sahen angesichts der Zustände in den wachsenden Großstädten Handlungsbedarf. Während die Stadtverwaltung mit dem Ausbau der Kanalisation oder dem Anschluss von Wohnhäusern ans Wassernetz für sanitäre Verbesserungen sorgte, waren Vegetarier:innen unter den ersten, die auf der individuellen Ebene zum Beispiel das regelmäßige Baden oder das Lüften von Wohnungen empfahlen.

Argumente für den Vegetarismus

Parallel zu den gesundheitlichen Beweggründen führten die Vegetarier:innen im 19. Jahrhundert weitere Argumente an. Ethische Motive umfassten die Ablehnung des Tötens von Tieren oder den Wunsch nach einer gewaltlosen Gesellschaft. In Deutschland nahmen freireligiöse Gruppen bei der Entstehung der vegetarischen Bewegung eine zentrale Rolle ein, im katholisch dominierten Österreich dahingegen nicht. Spirituelle Strömungen, die um 1900 entstanden, wie Mazdaznan oder die Anthroposophie, basierten zwar nicht auf Vegetarismus, befürworteten jedoch eine fleischlose Ernährung aufgrund der Theorie der Wiedergeburt bzw. der seelischen Reinheit. Sehr aktuell klingen ökonomische Argumente für den Vegetarismus: Der Bevölkerungsanstieg im 19. Jahrhundert warf die Frage nach der optimalen Nutzung von landwirtschaftlichen Ressourcen zur Versorgung aller auf. Nicht nur Vegetarier:innen stellten in diesem Zusammenhang Berechnungen an, wie viele Menschen auf der Basis einer Fläche ernährt werden können, wenn diese entweder für den Anbau von vegetarischen Lebensmitteln oder für die Erzeugung von Tierfutter und für Tierhaltung genutzt wird. Diese Kalkulationen lieferten für den Vegetarismus meist positive Ergebnisse.

Die Lebensreformbewegung um 1900

Bei der Frage der landwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse trafen sich Vegetarier:innen mit Bodenreformer:innen, die die Vision einer Gesellschaft entwarfen, in der Boden gemeinschaftlich besessen und – in der heutigen Terminologie – nachhaltig bewirtschaftet wird. Bodenreformer:innen und Vegetarier:innen waren nur zwei Gruppen der breiten Lebensreformbewegung. Um 1900 hatten sich auch Naturheilkunde-Vertreter:innen, Tierversuchsgegner:innen, Kleiderreformer:innen und FKK-Anhänger:innen etabliert. Während die Pionier:innen dieser Strömungen lediglich lose mit Gesinnungsgenoss:innen vernetzt waren, entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts besonders in Großstädten eine dichte Infrastruktur des alternativen Lebensstils. Für die Wiener Vegetarier:innen nahmen Restaurants und Reformhäuser eine wichtigere Rolle als Vereine ein. Das erste vegetarische Restaurant Wiens entstand 1877 aus der Bäckerei von Karl und Magdalena Ramharter. Im Jahr 1900 bot bereits eine Handvoll an Lokalen ausschließlich vegetarische Speisen an und in den 1920er Jahren stieg die Zahl auf sieben bis acht. Die Restaurants waren nicht nur kulinarische Anlaufstellen, sondern auch Werbeträger für den Vegetarismus und Veranstaltungsorte. Die ersten Restaurants verkauften nebenbei Reformwaren wie Grahambrot, bevor am Ende des 19. Jahrhunderts Reformhäuser ihre Pforten öffneten. Diese vegetarischen Geschäfte hatten zum Beispiel Kokosfett als Alternative zum in Wien allgegenwärtigen Schmalz im Angebot oder andere Neuheiten der industriellen Nahrungsmittelproduktion wie Suppenwürfel und Haferflocken.

Fleischersatzspeisen während des Ersten Weltkriegs

Dem kleinen Boom an Restaurants und Reformhäusern setzte der Erste Weltkrieg ein jähes Ende. Die Fleischknappheit führte zwar dazu, dass in Zeitungen Rezepte für Fleischersatzspeisen präsentiert wurden, zu überzeugten Vegetarier:innen wurden die Wiener:innen so aber nicht. Die Lebensmittelengpässe betrafen außerdem auch Vegetarier:innen. Das anfangs erwähnte Reformhaus Schmall musste beispielsweise vorübergehend schließen. Das Vereinsleben litt unter der Einschränkung der Versammlungsfreiheit und der Einberufung von Mitgliedern zum Heer. In der Haltung zum Krieg vertraten nur wenige Vegetarier:innen pazifistische Positionen. Der Großteil sah den Militärdienst dahingegen als Gelegenheit, die körperliche Fitness von Vegetariern zu beweisen.

Vitaminforschung und „neuzeitliche Ernährung“ in den 1920er Jahren

Nach dem Krieg dauerte es einige Jahre, bis sich die Infrastruktur erholt hatte. Dann jedoch wurden Restaurants und Reformhäuser über den Kreis der Vegetarier:innen hinaus frequentiert. Fortschritte in der Ernährungswissenschaft betonten den Wert pflanzlicher Lebensmittel. Jahrelang waren Vegetarier:innen wegen ihrer Werbung für die „Lichtnahrung“ (wie Obst und Gemüse oft genannt wurden) verlacht worden. In den 1920er Jahren wurden sie von der Vitaminforschung bestätigt. Empfehlungen zum Verzehr von (rohem) Obst und Gemüse gingen dabei mit Ratschlägen zur Reduktion von tierischem Eiweiß einher. Unter dem Schlagwort der „neuzeitlichen Ernährung“ wurde zwar nicht Vegetarismus, aber es wurden häufigere vegetarische Mahlzeiten propagiert. Dementsprechend wuchs der Markt für die vegetarische Gastronomie. Das vegetarische Speisehaus Athena auf der Mariahilferstraße warb zum Beispiel mit „vitaminreicher, gesunder und billiger“ Kost und Rohkostspezialitäten. Gleichzeitig stagnierte das vegetarische Vereinswesen. Der Wiener Vegetarierverein hatte mit der Überalterung seiner Funktionäre zu kämpfen. Manche waren bereits seit den 1880er Jahren aktiv, neue Mitglieder gab es dahingegen wenige.

Wie sich die vegetarische Bewegung langfristig weiterentwickelt hätte, lässt sich im Nachhinein nicht feststellen. Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg bedeuteten die totalitäre Diktatur der Nationalsozialist:innen und der Zweite Weltkrieg nicht eine vorübergehende Unterbrechung, sondern das Ende dieser vielfältigen und innovativen Bewegung.

Die Historikerin Birgit Pack forscht derzeit zur Wiener Vegetarier:innen-Bewegung von 1870 bis 1938. Auf dem Blog www.veggie.hypotheses.org präsentiert sie Forschungsergebnisse, Informationen zu Quellenmaterial und anderes Wissenswertes rund um das Thema.