Über Kälber, Kühe und Stiere - Ein Blick in das Leben der Wiederkäuer

Über Kälber, Kühe und Stiere - Ein Blick in das Leben der Wiederkäuer

22.02.2021

Menschen trinken ihre Milch und essen ihr Fleisch. Tierprodukte sind in den Leben der meisten Personen allgegenwärtig. So nehmen die Österreicher:innen im jährlichen Durchschnitt 12 kg Rindfleisch, 86 kg Milch und 40 kg Milchprodukte zu sich. Hinter diesen enormen Mengen an Tierprodukten stehen unzählige Lebewesen. Alleine in Österreich wurden im Jahr 2018 639.077 Rinder und 55.155 Kälber zu Nahrungszwecken getötet. Lassen Sie uns einen Blick hinter die Zahlen und auf die Lebensrealität und Bedürfnisse der Rinder werfen.

Die faszinierende Gefühlswelt der Rinder

Rinder haben ein vielseitiges Seelenleben. Ihre Gefühle, Gedanken und Empfindungen variieren von Individuum zu Individuum. So sind manche Rinder abenteuerlustig und neugierig, andere eher zurückhaltend und schüchtern. Wenn ein geliebtes Herdenmitglied an einer bestimmten Stelle gestorben ist oder zum letzten Mal gesehen wurde, kehren sie häufig zu diesem Punkt zurück und drücken auf diese Weise ihren Kummer aus. Als Herdentiere nehmen soziale Beziehungen eine große Rolle im Leben von Rindern ein. Sie erkennen bis zu 100 Artgenoss:innen und bilden feste Freundschaften, die ein Leben lang andauern können. Mit ihren besten Freund:innen verbringen sie einen Großteil ihrer Zeit. Aktivitäten wie Essen, Ruhen und Schlafen werden gemeinsam gestaltet. Rinder organisieren sich dabei in einem komplexen Herdensystem, das von einem erfahrenen und selbstbewussten Tier angeführt wird. Zur Kommunikation setzen Rinder unterschiedliche Laute und Körperhaltungen ein. Die Position des Kopfes sagt beispielsweise aus, ob Abstand oder Nähe gesucht wird. Mit ihren Stimmlauten wird eine Fülle von Gefühlen ausgedrückt. Für das geschulte Rinderohr klingt jedes Muh anders und kann unter anderem Zufriedenheit, Wut und Trauer ausdrücken.

Milch zerreißt Familien

Aufgrund der hohen Bedeutung von sozialen Beziehungen überrascht es wenig, dass ein besonders starkes emotionales Band zwischen Mutter und Kind besteht. Kühe produzieren ebenso wie wir Menschen Milch für ihre Babys. Mit etwa eineinhalb Jahren wird eine Kuh in der Landwirtschaft zum ersten Mal befruchtet, nach 9 Monaten Schwangerschaft gebärt sie ihr Kind und ab diesem Zeitpunkt gibt sie Milch. Damit die Milchleistung auf einem künstlichen Hoch gehalten wird, muss die Kuh einmal pro Jahr ein Kalb gebären. Sofort oder wenige Stunden nach der Geburt werden Mutter und Kind getrennt – damit es nicht seine eigene Muttermilch trinken kann. Denn diese ist für den Menschen bestimmt. Das neugeborene Kälbchen wird isoliert in einer Kälberbox oder einem Kälberiglu untergebracht. Die Trennung ist für beide ein traumatisierendes Ereignis. Mutter und Kind rufen tagelang verzweifelt nacheinander.

Schriftsteller Jeffrey Masson beschreibt in „Die verborgene Seele der Kühe“ eine Erzählung von einer Kuh-Kalb-Trennung: „Als es ihr weggenommen wurde, war sie in großer Trauer. Sie stand außerhalb des Stalls, wo sie das Kalb zuletzt gesehen hatte, und rief stundenlang nach ihm. Sie bewegte sich nur, wenn sie dazu gezwungen wurde. Selbst nach sechs Wochen starrte die Mutter auf jene Stelle, wo sie ihr Junges aus den Augen verloren hatte. Man hatte fast den Eindruck, als wäre ihr Geist gebrochen worden.“

(c) We Animals / Jo-Anne McArthur

Grenzenlose Tiertransporte

Kühe müssen stets Kälber gebären, um Milch zu geben. Weiblichen Kälbern widerfährt meist dasselbe Schicksal wie ihren Müttern und sie werden für die Milchproduktion genutzt. Männliche Kälber sind wenig interessant. Als „Abfallprodukte“ der Milchwirtschaft werden sie meist bald nach der Geburt verkauft. Häufig werden sie über weite Strecken ins Ausland in Mastbetriebe transportiert. Die grenzüberschreitenden Tiertransporte dauern oft Tage und durchqueren Länder und Kontinente. So hat der „Verein Gegen Tierfabriken“ im Frühjahr 2020 eine Recherche zu Kälbertransporten aufgedeckt. Die herzzerreißende Dokumentation vom Lebensweg dreier österreichischer Kälber zeigt wie pervertiert das Milchsystem ist. Nach über 21 Stunden Fahrt nach Spanien – völlig unversorgt, ohne Wasser oder Futter – blieben die Tiere einige Wochen bis Monate in der Mast. Anschließend wurden sie zwei Wochen per Schiff in den Libanon gebracht – um in einem minutenlangen Todeskampf bei vollem Bewusstsein ihr kurzes Leben zu verlieren. Das unvorstellbare Leid der Kälber ist ohne die Milchwirtschaft nicht denkbar. So klebt nicht nur an Fleisch, sondern auch an Milch jede Menge Blut.

(c) We Animal / Jo-Anne McArthur

Endstation Schlachthof

Neben der Mutter-Kind-Trennung und den Tiertransporten durchleben Rinder in der Landwirtschaft weitere Qualen. Die Anbindehaltung ist aufgrund zahlreicher Ausnahmeregelungen noch immer traurige Realität in Österreich. De facto sind zahlreiche Rinder ihr gesamtes Leben an Ort und Stelle in Ketten gelegt und können sich kaum bewegen. Die hohe Profitorientierung führt zu einer an maximaler Milchleistung orientierten Milchleistung. Pro Jahr stellt eine „Milchkuh“ in Österreich 7.100 kg Milch her – fünf Mal mehr als vor 70 Jahren. Der Körper der Kuh ist nicht für die Produktion von derart hohen Milchmengen ausgelegt. Euterentzündungen, Stoffwechsel-und Klauenerkrankungen sind weit verbreitet. Nach durchschnittlich drei Geburten werden Kühe in einem Alter von 5 Jahren geschlachtet, da ihre Körper keine Milchhöchstleistungen mehr erbringen. In der Mast landen Kälber mit etwa 22 Wochen und Rinder mit 2 Jahren im Schlachthof. Ob bio oder konventionell, ob Milch-oder Fleischproduktion: Der letzte Weg aller Rinder führt in den Schlachthof – lange Zeit vor ihrer natürlichen Lebenserwartung von 20 Jahren.

Wo Rinder noch Rind sein dürfen

Dass es auch anders geht, zeigt der Lebenshof „RinderWahnSinn“ im Waldviertel. Dort leben 60 Rinder, sechs Schweine und sechs Damhirsche. Um den Lebenshof kümmern sich Stephanie Buchinger und Hubert Gassner. Die meisten Tiere stammen aus der aufgegebenen Landwirtschaft. Andere konnten gerettet und aufgenommen werden. So etwa Alf, der mit 2 Monaten auf den Hof kam. Er wurde sofort nach der Geburt von seiner Mutter getrennt und verbrachte Wochen in einer 1x1 m kleinen Kälberbox. Zu Beginn konnte er kaum gehen, jeder Schritt wackelte – kein Wunder, seine Muskulatur war durch die Bewegungslosigkeit in der Kälberbox extrem geschwächt. Trotzdem war er von Anfang an neugierig und ging offen auf Herdenmitglieder zu. Die Ochsen und Stiere – Alf lebt in einer Männerherde – haben ihn sozusagen adoptiert und aufgezogen. Am Lebenshof wird schnell klar: Jedes Tier hat eine einzigartige Persönlichkeit. Gemeinsam haben sie ihre Vorliebe für saftiges Gras und frische Äpfel. Stephanie erinnert sich schmunzelnd: „Rinder sehen wirklich sehr gut. Als ich einmal Apfel essend über die Weide spaziert bin, ist plötzlich Belle aus 200 m Entfernung auf mich losgestürmt und hat in letzter Sekunde noch abgebremst, als ich ihr das Stück Obst hingestreckt habe.“ Am Lebenshof will man einen persönlichen Zugang zu Tieren schaffen und lädt zum Besuch ein, etwa im Rahmen vom „Weide-Workshop KuHnterbuntes Miteinander“.

Frage der Gerechtigkeit

Warum trinken wir Menschen die Muttermilch einer anderen Spezies? Warum nehmen wir herzzerreißende Trennungen von Kuh und Kalb in Kauf? Warum schaffen wir ein System, in dem männliche Kälber von „Milchkühen“ als „Abfallprodukte“ gelten und quer durch Europa und noch weiter transportiert werden? All diese Fragen drehen sich nicht zuletzt um Gerechtigkeit und Empathie. Sie sollten uns zum Nachdenken anregen, ob wir beim nächsten Einkauf nicht doch lieber zur Pflanzenmilch greifen und die Kuhmilch im Regal stehen lassen.