Sophie Zaïkowska: Anarchistin, Feministin und vegane Vorkämpferin in Frankreich
Sophie Zaïkowska: Anarchistin, Feministin und vegane Vorkämpferin in Frankreich
von Maurice Schuhmann
Im Kriminalroman „Die Brücke im Nebel“ stolpert Léo Malets Protagonist Nestor Burma, ein heruntergekommener Privatschnüffler, über einen ermordeten Anarchisten, den er noch von früher kennt – aus seiner Zeit in der Pariser Rue Tolbiac. Hier verkehrten er und das Mordopfer in einem „Veganerheim“ (foyer végétalien). Es verwundert erst einmal, wenn man das liest. Man verbindet Frankreich – mit seinen „Spezialitäten“ wie Stopfleber und den sprichwörtlichen 256 Käsesorten – mit allem Möglichen, aber bestimmt nicht mit Veganismus (végetalisme) – und über die Geschichte solcher vegetarischen/veganen Treffpunkte im Frankreich der 1920er Jahre ist bei uns wenig bekannt. Der Begriff végétale im Sinne von vegan tauchte um 1891 in der französischen Sprache auf – also einige Jahrzehnte, bevor der britische Begriff vegan eingeführt wurde.
Foto: Wikipedia
Pionierin der veganen Bewegung
Eine frühe Vorkämpferin für einen vegetarischen bzw. veganen Lebensstil in Frankreich und Betreiberin eines solchen Treffpunkts war die im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannte Öko- und Individualanarchistin Sophie Zaïkowska. Es finden sich nur wenige Informationen über sie – das meiste dürfte sich aus dem Beitrag des Historikers Jean Maîtron über sie im „Dictionnaire biographique, mouvement ouvrier, mouvement social“ und „Dictionnaire international des militants anarchistes“ ergeben. Auch bei Lou Marin in „Rirette Maîtrejean: Attentatskritikerin, Anarchafeministin, Individualanarchistin“ findet sich ein längerer Abschnitt über sie. Vereinzelt werden noch Texte von ihr in Frankreich nachgedruckt und sie selbst wird in Beiträgen zur Geschichte der vegetarischen und veganen Bewegung in Frankreich als Vorkämpferin für einen veganen Lebensstil gewürdigt.
Engagement für Veganismus
Laut diesen Quellen wurde Zaïkowska 1874 in Wilna (Litauen) geboren, kam nach einem Studium der Physik 1898 nach Frankreich und starb im Jahr 1939 in Paris. Sie betrieb in den 1920er Jahren zeitweise ein vegetarisch-veganes Restaurant bzw. eine Unterkunft in Paris – und propagierte einen veganen Lebensstil in der libertären Bewegung. Neben der Übernachtungs- und Speisemöglichkeit wurden in ihrem Foyer Végétale auch Gymnastik- und Literaturkreise sowie Vorträge zum veganen Leben angeboten. Es gab damals bereits einige bekannte Vegetarier:innen in der Bewegung, z. B. den Geografen und Kommunarden Elisée Reclus. Über den veganen Lebensstil und dessen Verbreitung in der Bewegung ist allerdings wenig bekannt.
Gemeinsam mit Georges Butaud, ihrem damaligen Lebensgefährten und Herausgeber mehrerer Bücher zur veganen Lebensweise, gab sie bereits im Jahr 1923 eine Anleitung zum veganen Lebensstil unter dem Titel „Tu seras végétalien!“ heraus. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie bereits seit zehn Jahren vegan – zeitweilig auch in Form einer reinen Rohkosternährung. Diese Anleitung wurde in den letzten Jahrzehnten nicht wieder neuaufgelegt und ist leider auch nicht online verfügbar.
Zaïkowska und Butaud betrieben selbst nicht nur Propaganda, sondern lebten auch gemeinsam in einer veganen französischen Landkommune. Ähnlich wie im deutschsprachigen Raum, wo solche Kommunen im Rahmen der Lebensreformbewegungen im ausgehenden 19. Jahrhundert aufkamen, waren solche Projekte einige Jahre später auch im französischsprachigen Raum entstanden. Die beiden gehörten zu den Gründer:innen der Gemeinschaft „Milieu Libre de Vaux“, die in einem Dorf östlich von Paris angesiedelt war. Es muss eine bunte Mischung aus Anarchist:innen und Naturist:innen unterschiedlicher Couleur gewesen sein, die hier versuchten, einen anderen Lebensstil auszuleben. Später wohnten sie noch in zwei anderen Kommuneprojekten.
Journalistin und Autorin im Themenbereich Veganismus und Anarchismus
Zaïkowska verfasste den Beitrag zum Schlagwort „Végétalisme“ (Veganismus) für die von Sébastian Faure in den 1930er Jahren herausgegebene „Encyclopédie Anarchiste“, eine Art anarchistische Enzyklopädie nach dem Vorbild jener, die von den Aufklärern Diderot und D’Alembert einst herausgegeben wurde. In diesem schreibt sie unter anderem über die gesundheitlichen, ethischen und ästhetischen (!) Aspekte des Veganismus. Manches, gerade in Bezug auf die gesundheitlichen Aspekte, ist aus heutiger Sicht überholt und nicht mehr zeitgemäß, anderes ist dahingegen erstaunlich aktuell. So spricht sie sich z. B. gegen künstliche Aromen und Zusatzstoffe in Lebensmitteln aus – ein Thema, das der US-amerikanische Ökoanarchist Murray Bookchin dreißig Jahre später als eine seiner ersten Beschäftigungen mit einem ökologischen Lebensstil erneut aufgreift. Neben ihrem Beitrag über Veganismus gab es auch einen weiteren über Vegetarismus. Weiterhin tat sie sich als Journalistin und Autorin hervor. Sie schrieb u. a. Beiträge für Zeitschriften wie „Education Libre“, „Vie Anarchiste“, „Autarcie“ und „Neo-Naturien“ – damals wichtige Publikationen im anarchistischen Spektrum Frankreichs. Im Jahr 1930 veröffentlichte sie – nach dem Tod von Butaud – noch eine weitere Broschüre zum „Veganismus“, die ebenso wie die andere Schrift vergriffen ist. Dies unterstreicht aber, inwiefern dieses Thema für sie eine Herzensangelegenheit war.
Auch wenn die von ihr damals vertretenen Positionen aus heutiger Sicht teilweise überholt sind oder sein dürften, ist sie sicherlich als eine frühe Vorkämpferin für einen veganen Lebensstil in Frankreich von großer Bedeutung und verdient eine Erinnerung. In einem Nachruf in der individualanarchistischen Zeitschrift „L’En-Dehors“, in deren Umfeld sie sich auch zeitweilig bewegte, würdigte man sie als eine der wichtigsten Vorkämpferinnen des Vegetarismus. Leider hat ihr Wirken nicht so gefruchtet, wie man hoffen könnte – und in Frankreich sucht man außerhalb von Paris noch häufig erfolglos ein veganes Restaurant. Selbst in der hiesigen anarchistischen Szene ist der vegetarische/vegane Lebensstil noch nicht etabliert.
Dr. Maurice Schuhmann ist Politikwissenschaftler und Philosoph. Er ist gebürtiger Berliner, aber lebt seit letztem Jahr wieder in seiner Wahlheimat Frankreich – ungeachtet aller Schwierigkeiten, in Frankreich vegetarisch-vegan zu leben. maurice-schuhmann.de
Hierbei handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines Artikels, der in der Februarausgabe 2025 der Berliner Umweltzeitung „Rabe Ralf“ erschienen ist.