Carolin Wiedmann – Vegane Ernährung aus Sicht einer Kinderärztin
Carolin Wiedmann – Vegane Ernährung aus Sicht einer Kinderärztin
Wer Unterstützung in Sachen veganer Ernährung von Kindern, Schwangeren und Stillenden sucht, ist bei Carolin Wiedmann genau richtig. Die Kinderärztin bietet eine Beratung zu pflanzenbasierter Ernährung in speziellen Lebensphasen wie Kindheit, Schwangerschaft und Stillzeit an. Außerdem ist sie für die Organisation Physicians Association for Nutrition (PAN) USA als Medical Director für Pädiatrie für das „Nutrition for Families Program“ tätig.
Hallo Carolin, was hat dich als Kinderärztin dazu veranlasst, dich auf vegane Ernährung zu spezialisieren?
Ich habe vor ca. zwei Jahren begonnen, auf meinem Instagram-Profil Beiträge für vegan lebende Schwangere, Stillende und Kinder bereitzustellen, da ich sowohl in Gesprächen mit Patient:innenfamilien als auch im Austausch mit ärztlichen Kolleg:innen festgestellt habe, dass viel Unsicherheit in diesem Bereich besteht. Dieses Informationsangebot wurde und wird sehr dankbar angenommen. Die Beiträge auf Instagram können jedoch keine individuelle Beratung ersetzen. Eine solche wünschen sich aber viele vegan lebende Familien und sie wird auch von offizieller Seite empfohlen. Leider erhalten vegan lebende Familie selten Unterstützung von ihren (Kinder-)Ärzt:innen, da viele Vorurteile bestehen. Im besten Fall wird die Ernährungsweise akzeptiert, die Eltern werden aber ansonsten oft allein gelassen. Häufig erfahren Eltern offene Ablehnung von Kinderärzt:innen oder werden sogar mit dem Vorwurf der Kindeswohlgefährdung konfrontiert. Diese Umstände haben mich den Entschluss fassen lassen, Familien, die sich pflanzenbasiert ernähren oder ernähren möchten, zu begleiten und zu beraten, um eine bedarfsdeckende Ernährung von Anfang an sicherzustellen.
Wie du sagst, wird eine Ernährungsberatung auch von Ernährungsfachgesellschaften empfohlen. Warum ist es wichtig, dass Eltern professionelle Unterstützung erhalten?
In diesen Lebensphasen ist der relative Bedarf an essenziellen Nährstoffen teilweise deutlich erhöht. Beispielsweise benötigt ein Säugling ab dem zweiten Lebenshalbjahr auf das Körpergewicht bezogen die siebenfache Eisenmenge eines erwachsenen Manns mit 70 Kilogramm. Die Ernährung eines Kinds muss also deutlich nährstoffdichter als die eines Erwachsenen sein. Während pro Kilogramm Körpergewicht viel mehr Nährstoffe aufgenommen werden müssen, ist die Magenkapazität bei Säuglingen und Kleinkindern zusätzlich begrenzt. Hinzu kommt die Extra-Herausforderung bei einer pflanzenbasierten Ernährung: Zum einen liefern vollwertige pflanzliche Lebensmittel viele Ballaststoffe, die unter Umständen zu vorzeitiger Sättigung führen können, was im Säuglingsalter nicht erwünscht ist. Zum anderen werden viele Nährstoffe wie Eisen und Zink aus pflanzlichen Lebensmitteln vom Körper schlechter als jene aus tierischen Nahrungsmitteln aufgenommen. Dann gibt es noch einige Nährstoffe, die in pflanzlichen Lebensmitteln nicht vorkommen (Vitamin B12) oder deren Bedarfsdeckung bewusster als bei Mischkost geplant werden muss (z. B. Jod). Das bedeutet unter anderem, dass die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln bei einer veganen Ernährung notwendig ist. Es gibt bei einer veganen Ernährung also einiges zu beachten, insbesondere in Phasen mit erhöhtem Nährstoffbedarf. Daher ist eine professionelle Beratung sinnvoll und empfehlenswert.
Mit welchen Sorgen kommen Eltern häufig in deine Ernährungsberatungen?
Viele Eltern sind bereits gut vorinformiert und kennen sich im Allgemeinen aus, wie sie eine gesunde vegane Ernährung zusammenstellen können. In Hinblick auf die sensiblen Lebensphasen bestehen aber oft Unsicherheiten. Es gibt unter anderem viele Fragen zu Nahrungsergänzungsmitteln, veganer Säuglingsformula und Beikost, aber auch zu Allergieprävention und wählerischem Essverhalten. Am häufigsten wird die Sorge vor Nährstoffdefiziten wie einem Eisenmangel genannt. Diese Sorge ist auch nicht ganz unberechtigt, da ein Nährstoffmangel gerade im Wachstum langfristige Folgen für die Gesundheit haben kann. Aber: Eine gut geplante vegane Ernährung ist auch in diesen Lebensphasen keine Raketenwissenschaft! Ja, man muss sich gut informieren – das sollte man meines Erachtens aber bei jeder Ernährungsform. Wenn man die wichtigsten Prinzipien verinnerlicht hat, ist eine vegane Ernährung von Kindern nicht nur gut machbar, sondern kann viel Spaß machen und den Grundstein für eine gesunde Ernährungsweise für das ganze Leben legen.
Am 16.08.2022 spricht Carolin Wiedmann im Rahmen unserer Webinarreihe zum Thema Kinderernährung! Anmeldung unter vegan.at/webinar-wiedmann.
Die Academy of Nutrition and Dietetics aus den USA, die weltweit größte Fachgesellschaft für Ernährung, sagt schon seit vielen Jahren, dass eine gut geplante vegane Kinderernährung gesund und nährstoffdeckend ist. Dem schließen sich Fachgesellschaften in vielen weiteren Ländern an. Deutschsprachige Gesellschaften sind dahingegen sehr vorsichtig in ihren Formulierungen. Woher kommt diese Skepsis im deutschsprachigen Raum?
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt eine vegane Ernährung in der Schwangerschaft, Stillzeit und im Kindesalter nicht. In sensiblen Lebensphasen sei der Nährstoffbedarf erhöht und der Bedarf an einigen Nährstoffen könne bei einer veganen Ernährung nicht oder nur schwer ohne angereicherte Lebensmittel bzw. Nahrungsergänzungsmittel gedeckt werden. Gleichzeitig sei das Risiko für schwerwiegende Gesundheitsschäden durch Nährstoffdefizite in diesen Phasen besonders hoch. Wer sich dennoch vegan ernähren möchte, solle auf die gezielte Verwendung nährstoffreicher Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel achten, die Nährstoffversorgung gegebenenfalls ärztlich überprüfen lassen und eine Beratung bei einer qualifizierten Ernährungsfachkraft in Anspruch nehmen. Auch die Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin äußert sich hinsichtlich einer veganen Ernährung in sensiblen Lebensphasen skeptisch und weist auf die dünne Studienlage sowie das hohe Risiko von Nährstoffdefiziten hin. Während ich die Vorbehalte prinzipiell ein Stück weit nachvollziehen kann, halte ich gerade die auffallend kritische, meiner Ansicht nach als tendenziös zu bezeichnende Position der deutschen pädiatrischen Fachgesellschaft für problematisch: Diese dient Kinderärzt:innen nicht nur als Richtschnur für die Patient:innenbetreuung, sondern beeinflusst auch die Haltung von Kinderärzt:innen gegenüber veganen Familien. Ich sehe hier unter anderem die Gefahr, dass Eltern, die von Kinderärzt:innen nicht die erhoffte professionelle Unterstützung erhalten, auf der Suche nach Informationen zu veganer Ernährung eventuell auf unseriöse Quellen, z. B. in Internetforen, stoßen und gesundheitsgefährdende „Tipps“ befolgen. Ich wünsche mir von den Fachgesellschaften, dass in zukünftigen Stellungnahmen neben einer kritischen Auseinandersetzung mit den potenziellen Fallstricken einer veganen Ernährung auch deren Potenziale hinsichtlich der Etablierung eines gesundheitsfördernden, vollwertig pflanzlichen Ernährungsmusters und auch hinsichtlich Nachhaltigkeitsaspekten in die Beurteilung einfließen und dass vor allem Kenntnisse zur Planung einer bedarfsdeckenden veganen Ernährung vermittelt werden.
Welches Potenzial hat eine pflanzenbasierte Ernährung in gesundheitlicher Hinsicht?
In einigen Ländern wie den USA steigt die Zahl an übergewichtigen und adipösen Kindern und Jugendlichen seit Jahren stetig. Damit verbunden sind dort auch immer mehr junge Menschen von Erkrankungen betroffen, die früher eigentlich typischerweise erst im höheren Erwachsenenalter aufgetreten sind, z. B. Bluthochdruck und Typ-II-Diabetes, aber auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Eine Ernährung, die auf gesättigten Fettsäuren und hoch- und ultraprozessierten Lebensmitteln wie Fastfood, Snacks und Süßigkeiten basiert, ist eine der Hauptursachen für die Entstehung dieser Erkrankungen. Ernährungsfachgesellschaften weltweit empfehlen eine Ernährung, die zu einem großen Teil aus vollwertigen, pflanzlichen Lebensmitteln besteht. Große epidemiologische Studien konnten zeigen, dass Menschen, die sich so ernähren, ein verringertes Risiko für Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-II-Diabetes und manche Krebserkrankungen haben. Aus gesundheitlicher Sicht ist es dabei nicht notwendig, vollständig auf tierische Nahrungsmittel zu verzichten. Wer das aber aus ethischen Gründen tun möchte und seine Ernährung gut plant, sich überwiegend vollwertig ernährt und den Speiseplan mit angereicherten Produkten bzw. Supplementen ergänzt, um den Bedarf an allen essenziellen Nährstoffen zu decken, kann damit von den gesundheitlichen Vorteilen einer pflanzenbasierten Ernährung profitieren.
Tipps für vegane Ernährung während Schwangerschaft, Stillzeit und Kindheit
Bei der Ernährung von Mutter und Kind sind einige Nährstoffe besonders zu beachten. Carolin Wiedmann verrät unter www.vegan.at/tipps-mutter-kind ihre wichtigsten Tipps.
Derzeit arbeitest du gemeinsam mit Ernährungsberaterin Anastasia Pyanova und Ernährungswissenschaftler Niko Rittenau an dem Buch „Vegan von Anfang an“, das Ende Mai erscheinen soll. Welche Inhalte können wir erwarten?
Wie der Titel schon sagt, geht es in unserem Buch um eine vegane Ernährung „von Anfang an“, das heißt von der Zeit vor der Schwangerschaft über die Stillzeit und das Säuglingsalter bis zum Kindes- und Jugendalter. Die Schwerpunkte des Buchs sind die ersten Lebensjahre, da der Nährstoffbedarf aufgrund des rasanten Wachstums und der Gehirnentwicklung hoch und eine gut geplante Ernährung besonders wichtig ist. Wir besprechen ausführlich den Stand der Wissenschaft, stellen Studien vor und ordnen deren Ergebnisse ein. Außerdem gibt es ausführliche Tipps und Hinweise für die praktische Umsetzung einer gut geplanten veganen Ernährung, vor allem für die vegane Beikost. Aspekte wie Essverhalten und Essstörungen werden ebenfalls thematisiert. Zudem stellen wir die nationalen und internationalen Positionen verschiedener Ernährungsfachgesellschaften zum Thema vegane Ernährung vor und kommentieren diese ausführlich.
Du bist als Medical Director für Pädiatrie für das Nutrition for Families Program von PAN USA tätig. Kannst du kurz umreißen, was die Ziele von PAN sind und wie ihr diese erreichen möchtet?
PAN ist eine international agierende Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Ernährung zu einem zentralen Bestandteil der Gesundheitsversorgung zu machen und gemeinsam mit Ärzt:innen und anderen im Gesundheitswesen Tätigen die Ernährungswende voranzutreiben. Eine vollwertige pflanzenbasierte Ernährung ist eine wichtige Stellschraube bei der Eindämmung der drei größten globalen Gesundheitskrisen – chronische Erkrankungen, Klimawandel und steigendes Pandemierisiko. Hierfür sensibilisiert PAN Gesundheitsfachkräfte und politische Entscheidungsträger:innen und bezieht sie in die Bemühungen um eine gesunde und nachhaltige Ernährungsumgebung ein. Einer der Haupttätigkeitsschwerpunkte von PAN ist die Fortbildung von Medizinstudierenden im Bereich Ernährung.
PAN hat mehrere internationale Zweigstellen, eine davon ist PAN USA. Deren Nutrition for Families Program hat zwei Zielgruppen: zum einen Kinderärzt:innen, Frauenärzt:innen und weitere Gesundheitsfachkräfte, die mit Kindern, Schwangeren und Familien arbeiten, und zum anderen die Familien selbst. Als „Medical Director, Pediatrics“ bin ich zusammen mit Dr. Tami Turner, Nutrition Director, schwerpunktmäßig für die Erstellung der Inhalte verantwortlich, also z. B. für Handbücher für Ärzt:innen und Familien oder für Webinare und Onlinekurse. Wenn sich Kinder- oder Frauenärzt:innen näher zu diesem Programm informieren möchten, freue ich mich über eine Kontaktaufnahme per E-Mail: c.wiedmann@pan-int.org.
Liebe Carolin, vielen Dank für das Interview und alles Gute für deine weiteren Projekte!
- Website von Carolin Wiedmann: www.vegped.com
- Instagram: @plantpowerpediatrician
- Rittenau/Pyanova/Wiedmann „Vegan von Anfang an: Optimal versorgt: Schwangerschaft, Stillzeit, Beikost, Kindesalter “, Becker Joest Verlag, ISBN 978-3-95453-237-7, € 25,95
- Auf vegane Ernährung spezialisierte Ernährungsberater:innen in Österreich: www.vegan.at/ernaehrungsberatung
PAN Austria wurde im April 2021 gegründet und ist eine offizielle Zweigstelle von PAN International. PAN Austria arbeitet derzeit am Aufbau einer Gemeinschaft innerhalb von Österreich sowie an der Einrichtung von Universitätsgruppen an österreichischen medizinischen Fakultäten. Das Ziel besteht darin, ein tieferes Bewusstsein für den medizinischen Nutzen einer pflanzenbasierten Ernährung zu schaffen. Indem PAN Austria sowohl Fachleute aus der Praxis als auch Universitäten und Studierende anspricht, soll mehr Aufmerksamkeit für die Ernährung als zentraler Bestandteil der Gesundheitsfürsorge erreicht werden. Eine Mitgliedschaft bei PAN Austria wird zukünftig möglich sein.
Kontakt:
E-Mail: info@pan-at.org
Web: www.pan-at.org
PAN International: www.pan-int.org
PAN USA: www.panusa.org